Die Abstraktion war für Kleiber auch immer eine Form der Auseinandersetzung mit der Komplexität des historisch Vorgefundenen. Gerade in Italien, namentlich in Rom machte er die Erfahrung, dass nicht nur der Boden, sondern auch die Luft durchtränkt war mit Historizität. Rom war für ihn als Stadt eine Art Weltgedächtnis, ein Weltgedächtnis, mit großen Bereichen des Verblassens und der Fragmentartigkeit. „Was kann man“, so Kleiber in einem 1950 anlässlich einer Ausstellungseröffnung in der Galleria Borghese gehaltenen Vortrag, „einem barocken Altar, besseres entgegenhalten, als eine klare, gerade Linie?“ Das darf man nicht missverstehen. Die Auseinandersetzung Kleibers mit dem römischen Barock war für ihn inspirierend. Habe man auch nur einmal den Vormittag eines ganz gewöhnlichen Tages in einer dieser mit Unmengen an poliertem Marmor, geschwungenem Gold, sich aufblasenden Wolken und weitbauschend in das gewölbt aufgespannte Himmelsblau gelegten Gewändern angefüllten Räumen verbracht, dann sei der Blick in den Himmel, und da meine er die vor dem Hintergrund der atmosphärischen Hülle der Erde stehenden Wolken, ein anderer. Man verstehe wie die Anhäufung von Wasserdampf zur Inspirationsquelle für wallend drapierte Stoffe und leuchtende Strahlen von Heiligenscheinen wurde. Dass das darin eingerahmte Gesicht so leuchtend wie der Hintergrund dem es entspringt in das Auge des fasziniert gefangengenommenen Betrachters blickt, mache die Stärke dieser Kunst aus. Mit dem Auge der Gegenwart, geschult durch die Übung der Abstraktion, auf die Essenz des Minimums reduziert, erschließe sich ganz präsentisch das epocheübergreifende Wesen von Kunst: Die Singularität von Linien als Inspiration.
Gedächtnis
von Michale Antenberg am 19. März 2016, keine Kommentare